ASPS Code of Conduct: Richtlinien für pflegende Angehörige
Präambel
Das Bundesgericht hat 2019 entschieden, dass ein Familienmitglied ohne entsprechende Ausbildung Grundpflege leisten darf. Die obligatorische Krankenpflegeversicherung (OKP) und die Restfinanzierung übernehmen diese Leistung, wenn das Familienmitglied bei einer Spitex- Organisation angestellt ist, und das Care Management sichergestellt wird.
In verschiedenen Antworten auf parlamentarische Vorstösse unterstützt der Bundesrat die Angehörigenpflege:
Antwort des Bundesrats auf den Vorstoss im Nationalrat von Lorenz Hess, Die Mitte/BDP (24.5.23):
Der Bundesrat geht nicht davon aus, dass die Situation auf dem Arbeitsmarkt durch pflegende Angehörige verschärft wird. Im Gegenteil, durch die Unterstützung ihrer Angehörigen können pflegebedürftige Personen länger zu Hause bleiben und müssen nicht in ein Pflegeheim eintreten, was wiederum Fachkräfte und Kosten spart.
Antwort des Bundesrats auf den Vorstoss im Nationalrat von Hannes Germann, SVP (24.5.23):
Pflegende Angehörige leisten einen essenziellen Beitrag zur Betreuung und Pflege von pflegebedürftigen Personen und helfen damit, den Fachkräftemangel in der Pflege zu reduzieren.
Antwort des Bundesrats auf den Vorstoss im Nationalrat von Marianne Binder-Keller, Die Mitte, EVP (22.11.23):
Die Anstellung von Angehörigen kann sinnvoll sein und zur Entschärfung des Fachkräftemangels in der Pflege beitragen. Es ist zentral, dass pflegende Angehörige ausreichend qualifiziert sind, und die anstellenden Organisationen sie adäquat begleiten und überwachen, um die Qualität der Pflege sicherzustellen.
Voraussetzung
Alle Spitex-Organisationen, welche Angehörigenpflege anbieten und abrechnen, benötigen eine kantonale Betriebsbewilligung und eine ZSR-Nummer zum Abrechnen mit den Krankenkassen. Somit gelten alle Anforderungen und Standards analog einer Spitex- Organisation, welche nicht in der Angehörigenpflege tätig ist.
Die Bedeutung der Angehörigenpflege
- Gesundheitliche Aspekte: Sie schützt sowohl die Pflegeempfänger als auch die pflegenden Angehörigen durch die Massnahmen der Spitexbetriebe (z.B. Qualitätssicherung und Care Management).
- Fachkräftemangel und Heimplätze: Sie trägt substanziell zur Entlastung des Fachkräftemangels und des langfristigen Mangels an Heimplätzen bei.
- Soziale Aspekte: Sie ermöglicht den Betroffenen eine möglichst lange Zeit in den eigenen vier Wänden.
- Kosteneinsparung: Weil die Leute länger zu Hause bleiben können, was für das System kostengünstiger ist als im Heim.
- Zeitgemässe Entlöhnung: Sie entspricht dem Zeitgeist, da pflegende Angehörige entlöhnt werden, was zu Beiträgen in die Sozialversicherungen führt und die Rentensituation sowie die Absicherung bei Krankheit, Unfall und Arbeitslosigkeit verbessert. Dies reduziert die Notwendigkeit von Ergänzungsleistungen und Krankenkassen-Prämienverbilligungen durch die Kantone.
Wer gilt als pflegende Angehörige?
Pflegende Angehörige sind Personen, die direkt mit der pflegebedürftigen Person verwandt sind (Geschwister, Eheleute, Kinder, Personen in eingetragenen Partnerschaften) oder aus dem engen Lebensumfeld stammen. Entscheidend ist nicht der Verwandtschaftsgrad, sondern die regelmässige und substanzielle Unterstützung, sowie die Verantwortung gegenüber der zu pflegenden Person. (Diese Definition entspricht den Administrativverträgen der Krankenkassen- und Spitex-Verbänden).
Was ist die Altersobergrenze?
Auf eine Altersobergrenze wird grundsätzlich verzichtet. Es ist jedoch in der Verantwortung der Spitex-Organisation, die physischen und psychischen Fähigkeiten der pflegenden Angehörigen zu beurteilen. Erfolgt eine Anstellung über das 75. Altersjahr hinaus, so ist die Arbeitsfähigkeit (ab dem 76. Lebensjahr) mittels eines standardisierten Fragebogens durch das diplomierte Pflegepersonal zu bestätigen.
Für Arbeitnehmer in diesem Alter hat der Arbeitgeber bei Krankheit die Lohnfortzahlung „nach Skala“ gem. OR Art. 324a sowie Spitex Basisvertrag Anhang 1 zu leisten. Es muss sichergestellt sein, dass der Versicherungsschutz für Berufsunfall und Krankentaggeld auch über das Rentenalter hinaus gewährleistet bleibt. Sollte dies aus Altersgründen nicht mehr möglich sein, ist der Arbeitgeber verpflichtet, die Lohnfortzahlung bei Krankheit oder Unfall zu übernehmen.
Wie sind die Arbeits- und Ruhezeiten?
Die ASPS vertritt die Auffassung, dass pflegende Angehörige dem Arbeitsgesetz unterstellt sind.
Gemäss Bundesgerichtsurteil BGE 148 II 203 greift bei einem Dreiparteienverhältnis (pflegebedürftige Person, betreuender Angehöriger, Spitexorganisation) die Ausnahme von Art. 2 Abs. 1 lit. g ArG nicht und das Arbeitsgesetz ist somit auf den pflegenden Angehörigen, der bei einer Spitexorganisation angestellt ist, anwendbar. Dementsprechend sind die Vorgaben des Arbeitsgesetzes und der Verordnungen zum Arbeitsgesetz einzuhalten.
Das SECO vertritt die Auffassung, dass das Arbeitsgesetz für pflegende Angehörige nicht anwendbar sei.
Das SECO beruft sich auf Art. 2 Abs. 1 lit. g ArG, wonach private Haushalte vom betrieblichen Geltungsbereich des Arbeitsgesetzes ausgenommen sind. Gestützt auf obgenannte bundesgerichtliche Rechtsprechung ist die ASPS anderer Meinung.
Abklärungen sind am Laufen
Bis rechtliche Sicherheit herrscht, besteht für Spitexorganisationen, die bezüglich von pflegenden Angehörigen, die Vorschriften des Arbeitsgesetzes nicht einhalten wollen, die Möglichkeit, darauf zu verzichten. Grundsätzlich bestehen „Restrisiken“ (Strafverfahren, rückwirkende Forderungen von pflegenden Angehörigen und/oder Krankenkassen etc.), welchen man sich jedoch bewusst sein muss. Die ASPS empfiehlt ihren Mitgliedern deshalb, für pflegende Angehörige die Vorgaben des Arbeitsgesetzes einzuhalten.
Wie werden die Leistungen finanziert?
Die Leistungen von pflegenden Angehörigen werden analog „gewöhnlicher“ Spitex- Leistungen abgerechnet. Pflegende Angehörige ohne tertiäre Pflegeausbildung dürfen ausschliesslich Grundpflegeleistungen (KLV C) erbringen. Betreuungsleistungen sind nicht abrechnungsfähig.
Die Kantone müssen die Kosten differenziert erfassen: separate Kostenberechnungen für Spitex-Leistungen und für die Angehörigenpflege. Entsprechend könnte jeder Kanton einen individuellen Normkostensatz für die Angehörigenpflege festlegen. Wünschenswert wäre ein nationaler und damit einheitlicher Restfinanzierungstarif (analog IV/UV/MV).
Für die nationale Spitexstatistik muss eine neue Kategorie für die Angehörigenpflege erstellt werden, damit Bund und Kantone die gleiche Basis haben.
Welche Qualitätsbestimmungen gelten?
Alle Beteiligten legen Wert darauf, dass die Angehörigenpflege von optimaler Qualität ist. Gemäss Bundesgerichtsentscheid benötigen pflegende Angehörige keine Qualifikationen. Die Spitex-Verbände ASPS und Spitex Schweiz haben jedoch mit den Versicherern vertraglich vereinbart, dass pflegende Angehörige innerhalb von 12 Monaten ab Anstellung einen Pflegehelferkurs oder eine gleichwertige Ausbildung als Mindest-Qualifikation absolvieren müssen. Diese Regelung gilt für Organisationen, die dem Administrativvertrag beigetreten sind. Die Spitex-Verbände fordern jedoch einheitliche gesetzliche Regelungen.
ASPS-Verhaltensregeln für die Angehörigenpflege
Die ASPS-Mitglieder verpflichten sich, folgende Regeln einzuhalten, welche spezifisch für die Angehörigenpflege Gültigkeit haben und von Bedeutung sind. Als Grundlage dient die kantonale Betriebsbewilligung, welche unter anderem die Fallführung, die Bedarfsabklärung und die Qualitätssicherung durch eine tertiäre Pflegefachperson definiert.
- Die Angehörigen werden in ihre pflegerischen Tätigkeiten gemäss Ergebnissen aus der Bedarfsabklärung und der aktuellen Pflegeplanung eingeführt. Dazu gehört die Einführung in die tägliche Pflegedokumentation, sowie das korrekte Verrechnen der effektiv geleisteten Zeit für die Pflegeaufgaben.
- Wissen und Fähigkeiten zu pflegerelevanten und medizinischen Themen werden individuell vermittelt. Dabei müssen auch die persönliche Belastung und die Kompetenzen der pflegenden Angehörigen eingeschätzt werden, welche zusätzliche Unterstützung erfordern können. Die Spitex-Organisationen verpflichten sich, solche Unterstützungs- massnahmen bei Bedarf zu organisieren.
- Als Richtwert sollten Pflegefachpersonen HF/FH bei einem 100%-Pensum in der Regel nicht mehr als 24 Kundinnen/Kunden für die Fallprüfung/Begleitung zugewiesen werden.
- Ein Besuch pro Monat vor Ort und alle 14 Tage ein Telefongespräch mit der/dem pflegenden Angehörige/n sowie der/dem Pflegeempfänger/in zur Evaluation der Pflegesituation und zur Qualitätssicherung gelten als Minimum (gemäss Anhang Administrativvertrag). Je nach individueller Pflegesituation muss die Frequenz der Kontrollen/Kontakte für die Qualitätssicherung erhöht werden.
- Die Spitexorganisation muss die individuelle Pflegesituation kennen und unabhängig der/vom pflegenden Angehörigen einschätzen können. Daher müssen Begleitungen durch Fachpersonal bei der Durchführung der Pflege durch die pflegenden Angehörigen stattfinden, um den effektiven Pflegebedarf korrekt einschätzen zu können und die Qualität der Pflege durch die Angehörigen zu sichern.
- Die Spitex-Organisation trägt die professionelle, pflegerische Verantwortung der jeweiligen Klientensituation und greift ein, wenn das Wohl der Pflegeempfänger/innen durch eine/n pflegende/n Angehörige/n oder eine andere Person gefährdet ist.
- Pflegende Angehörige erhalten einen fairen, angemessenen und kompetenzgerechten Lohn, der mindestens dem marktüblichen Lohn für Pflegehelfer/innen entsprechen muss (je nach Region unterschiedlich).
- Pflegende Angehörige erhalten einen branchenüblichen Arbeitsvertrag sowie entsprechende Sozialleistungen.
- Spitex-Organisationen, die Angehörigenpflege betreiben, müssen in einem Konzept darlegen, wie sie die oben genannten Kriterien in der Praxis umsetzen.
Quelle: Association Spitex privée Suisse ASPS
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